Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Vielen Dank für die Einführung. Herzlich willkommen. Ich bedanke mich auch nochmal bei dir jetzt konkret, aber für das ganze Team für die Einladung.
Ich freue mich hier, dass ich in dem Rahmen dieser Vorlesungsreihe ein paar Überlegungen zu der Frage der parallelen Gesellschaftsform von französischen Sinti und Roma innerhalb der französischen Mehrheitsgesellschaft darlegen darf.
Wie im Titel jetzt auch schon deutlich wurde, arbeite ich mit dem Dachbegriff Roma als Heteronym
für sämtliche Untergruppen, wie etwa Sinti, die Roma an sich, Calais, Calderas, Manouche,
Chitanos und so weiter. Also das als der Dachbegriff für sämtliche, vielen Untergruppen.
Vorausschicken möchte ich ferner, dass ich mich bezüglich der künstlerisch-leterrarischen Beispiele
auf die Selbstdarstellungen seitens der Minderheit konzentrieren werde.
Zunächst werde ich mich aber mit einigen allgemeinen Fragen zu der diasporischen Minderheit der Roma widmen
und Ihnen ausgehend davon einige ausgewählte Beispiele von auf Französisch schreibenden Roma Autoren
mit Blick auf die künstlerische speziell literarischen Diskurse und Inszenierungen von selbstgewählter Abgrenzung
und fremdbestimmter Ausgrenzung vorstellen.
Um der Frage nachzugehen, ob bzw. in welchem Maße man im Falle der Roma von einer Parallelgesellschaft
innerhalb der französischen Kerngesellschaft sprechen kann, möchte ich mit einigen Überlegungen
zur identitären und heimatlichen Selbstverortung von Roma beginnen.
Die diasporische Minderheit und imaginative Rekonstruktion eines Heimatlandes.
Mit knapp 12 Millionen Menschen bilden die Roma die größte ethnische Minderheit Europas.
Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern ethnischer Minderheiten, die aus politischen, religiösen
oder wirtschaftlichen Gründen ihre Heimatländer verlassen mussten, fehlt den Roma
dieses geografisch klar bestimmbare nationalstaatlich organisierte Heimatland,
in dem Romanes, also die indogamanische Roma-Sprache, Amts- und Verkehrssprache war bzw. ist.
Auch wenn es aufgrund linguistischer Studien als erwiesen gilt, dass die ursprüngliche
Herkunft der Roma in dem Gebiet im Bereich Nordindien bzw. dem heutigen Pakistan liegen dürfte,
gab es auch dort nie ein wirkliches Heimatland, in dem die Roma sesshaft Dominante in Ethnie waren.
Ohne Wissen über Gründe und Motivationen, in der Forschung wird bis heute darüber gestritten,
ob es sich um freiwillige Migration oder um Vertreibung handelte, erfolgte die Immigrationsbewegung
der Roma ab dem 8. Jahrhundert über Persien nach Armenien bis schließlich nach Griechenland,
wovon ausgehend ab dem 14. Jahrhundert die Roma über ganz Europa sich verbreitet haben.
Obwohl es keinerlei historische Belege über die Zeit in Indien gibt, spielt der Bezug
auf eine de facto vollkommen nebulöse Vergangenheit auf dem indischen Subkontinent ebenso wie
die jahrhundertelange Wanderschaft eine ganz zentrale Rolle bei der Wahrung der kollektiven Identität dieser Gruppe.
Die fiktive Rekonstruktion eines mental-immigrativen Heimatlandes im Sinne von Vijay Mishra's
Diasporic Imaginary trägt dabei stark unifizierende Funktion und gewährleistet das Zugehörigkeits-
und Zusammengehörigkeitsgefühl der gesamten Ethnie. Obwohl es im Falle der Roma keine traumatische
Vertreibungserfahrung aus dem ursprünglichen Heimatland und dessen rituelle Erinnerung
wie im Falle der jüdischen Diaspora gibt, kann aufgrund des rekonstruierten Heimatlandes Indiens,
wenn man Mishra folgt, von den Roma als einer diasporischen Gemeinschaft gesprochen werden.
Wie Goswami und Wagner hinsichtlich der aktiven Produktion qualitativer Kollektividentitäten
bei Nationen ohne einen eigenen Staat hervorheben, gründet die Verbreitung und Verankerung einer
imaginativen und mentalen Heimat im kollektiven Gedächtnis in den narrativen fiktiven Erfindungen
von Nationalmythen. Also das ist der ganz zentrale Aspekt für dieses Heimatgefühl,
das konstruiert wird, dass man solche Nationalmythen fiktiv konstruiert.
Welche enorme Bedeutung die imaginativ rekonstruierte Heimat für das kollektive Selbstbewusstsein
der diasporischen Minderheit als eigenständige Nation hat, die tatsächlich auch ihre Völker
und ihre Völkerrechte heute zumindest, oder zumindest ab den 70er Jahren, international einfordert,
zeigt die Flagge, die 1971 anlässlich des ersten Weltkongresses der International Romani Union
in Anlehnung an die indische Flagge kreiert wurde. Während das Blau den Himmel und das Grün
die Erde symbolisiert und damit die Naturverbundenheit der Roma zum Ausdruck gebracht werden soll,
verdeutlicht das Rad, das Chakra, was man aus der indischen Flagge ja auch kennt, die indische Herkunft.
Also das wurde parallel kreiert. Wobei man hinzufügen muss, dass der deutsche Zentralrad von Sinti und Roma
Presenters
PD Dr. Marina Hertrampf
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:54:59 Min
Aufnahmedatum
2017-02-07
Hochgeladen am
2017-02-10 10:58:05
Sprache
de-DE
Roma-Gesellschaften im Spannungsfeld von selbstgewählter Abgrenzung und fremdbestimmter Ausgrenzung am Beispiel französischer Roma-Literatur